FG Münster zur Steuererstattung per einstweiliger Anordnung
Tenor:
Der Antragsgegner wird im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, die als Steuerfestsetzungen unter Vorbehalt der Nachprüfung wirkenden Steueranmeldungen der Antragstellerin für 2006 – 2008 entsprechend den Änderungsanträgen der Antragstellerin vom 05.09.2011, 17.06.2011 und 19.05.2011 antragsgemäß zu ändern und die von der Antragstellerin entrichtete Umsatzsteuer in Höhe von 26.282,25 EUR für 2006, in Höhe von 38.185,19 EUR für 2007 und in Höhe von 46.149,70 EUR für 2008 (gesamt 110.617,14 EUR) zzgl. der Zinsen gem. § 233a AO an die Antragstellerin zu erstatten.
…
Gründe:
Die Antragstellerin (Ast.) begehrt im Wege der einstweiligen Anordnung die Auszahlung von Umsatzsteuererstattungsbeträgen und Zinsen für die Jahre 2006 bis 2008.
Die Astin. ist Alleingesellschafterin und Geschäftsführerin der L GmbH (nachfolgend: "GmbH"). Es besteht eine umsatzsteuerliche Organschaft mit der Astin. als Organträgerin und der L GmbH als Organgesellschaft. Die GmbH betreibt mehrere Imbissstände auf Parkplätzen von Supermärkten und Einkaufszentren. An den Imbissständen werden Brat- und Currywürste, Krakauer, Frikadellen, Pommes und Getränke (Cola, Cola light, Fanta, Sprite, Wasser, Caprisonne) verkauft. Bei den Imbissständen handelt es sich um mobile Imbisswagen. Diese verfügen über eine Verkaufstheke bzw. Ablagebrett, an dem auf Wunsch auch Speisen verzehrt werden können. Weitere gesonderte Verzehrvorrichtungen werden nicht vorgehalten. In den Veranlagungsjahren 2006 bis 2008 erklärte die Astin. ihre Umsätze jeweils als Umsätze zum regulären Steuersatz von 19%. Die Umsatzsteuererklärungen stehen Steuerfestsetzungen unter dem Vorbehalt der Nachprüfung gleich.
Am 10.03.2011 erging das Urteil des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) in den Rechtssachen "Gob" u.a. Danach ist die Abgabe frisch zubereiteter Speisen zum sofortigen Verzehr an Imbissständen oder -wagen regelmäßig als Lieferung zu qualifizieren, wenn sich die Zubereitung dieser Speisen auf einfache standardisierte Handlungen beschränkt, die dem Umsatz nicht den Charakter einer Dienstleistung verleihen können (vgl. EuGH, Urteil vom 10.03.2011, "Bog" u.a., C-497, 499, 501, 502/09, ABl EU 2011, Nr C 130, 6, DStR 2011, 515). Folgeurteile des Bundesfinanzhofs (BFH) ergingen am 08.06.2011 und am 30.06.2011 (BFH, Urteil vom 08.06.2011, XI R 33/08, Juris; Urteil vom 08.06.2011, XI R 37/08, DB 2011, 2129; Urteil vom 30.06.2011, V R 18/10, BFH/NV 2011, 1813; Urteil vom 30.06.2011, V R 35/08, BFH/NV 2011, 1811).
Unter Bezugnahme auf diese Rechtsprechung beantragte die Astin. die Änderung der unter dem Vorbehalt der Nachprüfung stehenden Umsatzsteuerfestsetzungen für 2006 bis 2008. Für das Jahr 2006 stellte die Ast. den Änderungsantrag am 05.09.2011, für das Jahr 2007 am 07.06.2011 und für das Jahr 2008 am 19.05.2011.
…
Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung ist zulässig und begründet.
1. Der Senat legt den Antrag der Astin. dahingehend aus, dass Verpflichtung des Ag. zum vorläufigen Erlass geänderter Umsatzsteuerbescheide sowie die sofortige Auszahlung des sich daraus ergebenden USt-Guthabens und der Zinsen begehrt wird.
2. Der zulässige Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung ist auch begründet. Die Voraussetzungen für den Erlass der begehrten einstweiligen Anordnung sind erfüllt.
Gemäß § 114 Abs. 1 Satz 2 FGO kann das Gericht auf Antrag eine einstweilige Anordnung zur Regelung eines vorläufigen Zustands in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis treffen, wenn die Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile, zur Verhinderung drohender Gewalt oder aus anderen Gründen nötig erscheint (sog. Regelungsanordnung). Voraussetzung für einen erfolgreichen Antrag ist, dass der Antragsteller einen Grund für die zu treffende Regelung (sog. Anordnungsgrund) und den Anspruch, aus dem er sein Begehren herleitet (sog. Anordnungsanspruch), schlüssig dargelegt und deren tatsächliche Voraussetzungen glaubhaft gemacht hat (§ 114 Abs. 3 FGO i.V.m. § 920 Abs. 2 der Zivilprozessordnung). Fehlt es an einer der beiden Voraussetzungen, kann die einstweilige Anordnung nicht ergehen (z.B. BFH-Beschluss vom 22. 12.2006 VII B 121/06, BStBl II 2009, 839).
a. Der für den Erlass der einstweiligen Anordnung erforderliche Anordnungsanspruch ist gegeben. Die Astin. hat bei summarischer Prüfung Anspruch auf Änderung der unter dem Vorbehalt der Nachprüfung stehenden Umsatzsteuerfestsetzungen 2006 bis 2008 gem. § 164 Abs. 2 Satz 2 AO. Diese Umsatzsteuerfestsetzungen sind rechtswidrig. Denn der Ag. hat die Umsätze der Astin. aus der Abgabe von Speisen bislang dem regulären Steuersatz von 16% bzw. 19% unterworfen (§ 12 Abs. 1 UStG), obwohl diese Umsätze tatsächlich als Lieferungen i.S.d. § 3 Abs. 1 UStG dem reduzierten Steuersatz von 7% unterliegen (§ 12 Abs. 2 Nr. 1 UStG i.V.m. Anlage 2 zum UStG).
Die bloße Lieferung von Speisen und Getränken i.S. des § 3 Abs. 1 UStG ist von der Abgabe von Speisen und Getränken zum Verzehr an Ort und Stelle abzugrenzen, die als sonstige Leistung i.S.d. § 3 Abs. 9 UStG zu qualifizieren ist. Während die Lieferung von Speisen i.S. des § 3 Abs. 1 UStG dem ermäßigten Steuersatz von 7% unterliegt (§ 12 Abs. 2 Nr. 1 UStG i.V.m. Anlage 2 zum UStG), ist die als sonstige Leistung i.S. des § 3 Abs. 9 UStG zu qualifzierende Abgabe von Speisen zum regulären Steuersatz zu versteuern.
Zur Abgrenzung von Lieferung und sonstiger Leistung im Falle von Imbissständen hat der EuGH in seinem Urteil vom 10.03.2011 Stellung genommen (Rechtssachen "Bog" u.a., C-497, 499, 501, 502/09, ABl EU 2011, Nr C 130, 6, DStR 2011, 515). Danach ist die Abgabe frisch zubereiteter Speisen oder Nahrungsmittel zum sofortigen Verzehr an Imbissständen oder -wagen dann als Lieferung zu qualifizieren, wenn eine qualitative Prüfung des gesamten Umsatzes ergibt, dass die Dienstleistungselemente, die der Lieferung der Nahrungsmittel voraus- und mit ihr einhergehen, nicht überwiegen (EuGH-Urteil vom 10.03.2011, aaO., erster Spiegelstrich des ersten Leitsatzes). Der Verkauf von Bratwürstchen und Pommes frites an einem Imbissstand beinhaltet aufgrund der notwendigen Zubereitungshandlungen zwar stets auch ein Dienstleistungselement. Diese Zubereitung beschränkt sich jedoch auf einfache standardisierte Handlungen, die dem Umsatz insgesamt nicht den Charakter einer Dienstleistung verleihen können (vgl. EuGH, EuGH, Urteil vom 10.03.2011, aaO., Rn. 67 und 68). Die Annahme einer bloßen Lieferung liegt nach einer beispielhaften Aufzählung des EuGH insb. dann nahe, wenn kein Kellnerservice, keine geschlossenen und temperierten Räume, keine Garderobe und keine Toiletten und kein Mobiliar und Gedeck vorgehalten werden (vgl. EuGH-Urteil vom 10.03.2011, aaO., Rn. 69).
Nach den vorstehend dargestellten Grundsätzen sind die Umsätze der Astin. aus dem Verkauf von Bratwürstchen, Pommes frites als Lieferung i.S.d. § 3 Abs. 1 UStG zu qualifizieren, da es sich um einfach zubereitete Speisen im Sinne der Rechtsprechung des EuGH und des BFH handelt. Die Astin. hält auch keine höherwertigen Verzehrvorrichtungen (Tische, Bänke etc.) vor, die ggf. zu einer Qualifizierung der Umsätze als sonstige Leistung i.S. des § 3 Abs. 9 UStG führen können.
Durch Vorlage der korrigierten Umsatzsteuererklärungen nebst Anlagen hat die Astin. die Höhe der Umsätze aus der Abgabe von Speisen und die Höhe der hieraus resultierenden Erstattungsbeträge hinreichend glaubhaft gemacht. Der Ag. hat die Richtigkeit dieser Angaben nicht bestritten.
Der Anordnungsanspruch im Hinblick auf die Zinsen ergibt sich aus § 233a AO.
b. Der Senat bejaht auch den Anordnungsgrund. Die Astin. hat schlüssig dargelegt und glaubhaft gemacht, dass ihr ohne die begehrte einstweilige Anordnung wesentliche Nachteile drohen. Die Astin. und die von ihr beherrschte Organgesellschaft sind unmittelbar von der Zahlungsunfähigkeit bedroht.
Ein Anordnungsgrund ist nach § 114 Abs. 1 Satz 2 FGO gegeben, wenn die einstweilige Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile, zur Verhinderung drohender Gewalt oder aus anderen Gründen nötig erscheint. Notwendig ist die Anordnung nur, wenn das private Interesse des Antragstellers an der einstweiligen Regelung das öffentliche Interesse an der Aufrechterhaltung des gegenwärtigen Zustandes überwiegt und die vorläufige Maßnahme unumgänglich ist, um wesentliche Beeinträchtigungen der Rechtsposition des Antragstellers zu verhindern. Die für den Erlass einer Anordnung geltend gemachten Gründe müssen so schwerwiegend sein, dass sie eine einstweilige Anordnung unabweisbar machen; das ist dann der Fall, wenn ohne eine vorläufige Regelung die wirtschaftliche und persönliche Existenz des Antragstellers bedroht wäre. Geringere Beeinträchtigungen des Antragstellers reichen grundsätzlich nicht aus (vgl. z.B. BFH-Beschluss vom 08.06.2011 III B 210/10, BFH/NV 2011, 1692; BFH-Beschluss vom 23.09.1998 I B 82/98, BStBl II 2000, 320; jeweils m.w.N.). Da eine einstweilige Anordnung nur einem vorläufigen Rechtsschutz dient, muss sich die Regelungsanordnung auf eine vorläufige Regelung beschränken. Sie ist grundsätzlich unzulässig, wenn sie das Ergebnis der Entscheidung in der Hauptsache praktisch vorwegnehmen und damit dieser endgültig vorgreifen würde (BFH-Beschluss vom 23.09.1998, I B 82/98, BStBl II 2000, 320; BFH-Beschluss vom 09.12.1969, VII B 127/69, BStBl II 1970, 222). Ausnahmsweise ist eine dem Ergebnis des Hauptsacheverfahrens endgültig vorgreifende Regelungsanordnung allerdings zulässig, wenn sie zur Gewährung effektiven Rechtsschutzes unumgänglich ist, der Erfolg des Antragstellers im Hauptsacheverfahren wahrscheinlich ist und der Anordnungsgrund eine besondere Intensität aufweist (BFH-Beschluss vom 20.09.1988 VII B 129/88, BStBl II 1988, 956; BFHBeschluss vom 22.08.1995, VII B 153, 154, 167, 172/95, BStBl II 1995, 645).
Im vorliegenden Fall besteht ein Anordnungsgrund, weil die wirtschaftliche Existenz der Astin. und der GmbH wegen drohender Zahlungsunfähigkeit unmittelbar bedroht ist. Es bestehen offene Verbindlichkeiten der GmbH in beträchtlicher Höhe, die von dieser jedenfalls gegenwärtig nicht beglichen werden können. Die Hausbanken der GmbH sind nicht bereit, eine Erweiterung des bereits ausgeschöpften Kreditrahmens zu gewähren. Diese Umstände hat die Astin. durch Vorlage zahlreicher Unterlagen glaubhaft gemacht, insb. durch Bestätigungen der Hausbanken der GmbH sowie durch Mahnungen und geschäftliche Korrespondenz. Auch die Astin. ist nicht in der Lage, der GmbH kurzfristig Liquidität aus ihrem Privatvermögen zur Verfügung zu stellen. Zwar stehen der Astin. offenbar nicht valutierte Eigentümergrundschulden zur Verfügung, die sie ihren Gläubigern als Sicherheit anbieten könnte. Der Senat sieht jedoch als glaubhaft an, dass die Banken angesichts des akuten Liquiditätsmangels der Astin. trotz möglicher Sicherheitengestellung nicht zur Erhöhung der vorhandenen Kreditrahmen bereit sind. Das vorhandene Immobilienvermögen der Astin. lässt sich nicht kurzfristig liquidieren.
Durch die einstweilige Anordnung wird zwar die Entscheidung in der Hauptsache vorweggenommen, da die Astin. nach Vollziehung der einstweiligen Anordnung uneingeschränkt über den Erstattungsbetrag verfügen kann. Auch der Umstand der Vorwegnahme der Hauptsache lässt den Anordnungsgrund im vorliegenden Fall jedoch ausnahmsweise nicht entfallen. Die Gewährung der einstweiligen Anordnung ist vorliegend zur Gewährung effektiven Rechtsschutzes unumgänglich, da durch den drohenden Eintritt der Insolvenz der Astin. ggf. unumkehrbarer Schaden droht. Weiterhin ist ein öffentliches Interesse an der Aufrechterhaltung des gegenwärtigen Zustandes nicht ersichtlich. Nach der gebotenen summarischen Prüfung ist frei von jeglichen Zweifeln, dass die von der Astin. erzielten Umsätze aus der Abgabe von Speisen als Lieferung i.S.d. § 3 Abs. 1 UStG zu qualifizieren sind und dem ermäßigten Steuersatz gem. § 12 Abs. 2 Nr. 1 UStG i.V.m. Anlage 2 des UStG unterliegen. Materiell-rechtliche Argumente, die gegen diese rechtliche Beurteilung sprechen, konnte der Ag. nicht vortragen.
Der Ag. kann sich nicht mit Erfolg darauf berufen, dass die Entscheidung des EuGH vom 10.03.2011 und die Folgeentscheidungen des BFH vom 08.06.2011 und vom 30.06.2011 noch nicht im Bundessteuerblatt veröffentlicht sind. Die Verpflichtung des Ag. zur Anwendung der geltenden Gesetze kann durch verwaltungsinterne Anweisungen übergeordneter Behörden weder sachlich beschränkt noch in zeitlicher Hinsicht ausgesetzt werden.
Finanzgericht Münster, Beschluss vom 23.02.20125 – V 4511/11 U
16.03.2012, Dr. Jochen Bachmann
Tenor:
Der Antragsgegner wird im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, die als Steuerfestsetzungen unter Vorbehalt der Nachprüfung wirkenden Steueranmeldungen der Antragstellerin für 2006 – 2008 entsprechend den Änderungsanträgen der Antragstellerin vom 05.09.2011, 17.06.2011 und 19.05.2011 antragsgemäß zu ändern und die von der Antragstellerin entrichtete Umsatzsteuer in Höhe von 26.282,25 EUR für 2006, in Höhe von 38.185,19 EUR für 2007 und in Höhe von 46.149,70 EUR für 2008 (gesamt 110.617,14 EUR) zzgl. der Zinsen gem. § 233a AO an die Antragstellerin zu erstatten.
…
Gründe:
Die Antragstellerin (Ast.) begehrt im Wege der einstweiligen Anordnung die Auszahlung von Umsatzsteuererstattungsbeträgen und Zinsen für die Jahre 2006 bis 2008.
Die Astin. ist Alleingesellschafterin und Geschäftsführerin der L GmbH (nachfolgend: "GmbH"). Es besteht eine umsatzsteuerliche Organschaft mit der Astin. als Organträgerin und der L GmbH als Organgesellschaft. Die GmbH betreibt mehrere Imbissstände auf Parkplätzen von Supermärkten und Einkaufszentren. An den Imbissständen werden Brat- und Currywürste, Krakauer, Frikadellen, Pommes und Getränke (Cola, Cola light, Fanta, Sprite, Wasser, Caprisonne) verkauft. Bei den Imbissständen handelt es sich um mobile Imbisswagen. Diese verfügen über eine Verkaufstheke bzw. Ablagebrett, an dem auf Wunsch auch Speisen verzehrt werden können. Weitere gesonderte Verzehrvorrichtungen werden nicht vorgehalten. In den Veranlagungsjahren 2006 bis 2008 erklärte die Astin. ihre Umsätze jeweils als Umsätze zum regulären Steuersatz von 19%. Die Umsatzsteuererklärungen stehen Steuerfestsetzungen unter dem Vorbehalt der Nachprüfung gleich.
Am 10.03.2011 erging das Urteil des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) in den Rechtssachen "Gob" u.a. Danach ist die Abgabe frisch zubereiteter Speisen zum sofortigen Verzehr an Imbissständen oder -wagen regelmäßig als Lieferung zu qualifizieren, wenn sich die Zubereitung dieser Speisen auf einfache standardisierte Handlungen beschränkt, die dem Umsatz nicht den Charakter einer Dienstleistung verleihen können (vgl. EuGH, Urteil vom 10.03.2011, "Bog" u.a., C-497, 499, 501, 502/09, ABl EU 2011, Nr C 130, 6, DStR 2011, 515). Folgeurteile des Bundesfinanzhofs (BFH) ergingen am 08.06.2011 und am 30.06.2011 (BFH, Urteil vom 08.06.2011, XI R 33/08, Juris; Urteil vom 08.06.2011, XI R 37/08, DB 2011, 2129; Urteil vom 30.06.2011, V R 18/10, BFH/NV 2011, 1813; Urteil vom 30.06.2011, V R 35/08, BFH/NV 2011, 1811).
Unter Bezugnahme auf diese Rechtsprechung beantragte die Astin. die Änderung der unter dem Vorbehalt der Nachprüfung stehenden Umsatzsteuerfestsetzungen für 2006 bis 2008. Für das Jahr 2006 stellte die Ast. den Änderungsantrag am 05.09.2011, für das Jahr 2007 am 07.06.2011 und für das Jahr 2008 am 19.05.2011.
…
Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung ist zulässig und begründet.
1. Der Senat legt den Antrag der Astin. dahingehend aus, dass Verpflichtung des Ag. zum vorläufigen Erlass geänderter Umsatzsteuerbescheide sowie die sofortige Auszahlung des sich daraus ergebenden USt-Guthabens und der Zinsen begehrt wird.
2. Der zulässige Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung ist auch begründet. Die Voraussetzungen für den Erlass der begehrten einstweiligen Anordnung sind erfüllt.
Gemäß § 114 Abs. 1 Satz 2 FGO kann das Gericht auf Antrag eine einstweilige Anordnung zur Regelung eines vorläufigen Zustands in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis treffen, wenn die Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile, zur Verhinderung drohender Gewalt oder aus anderen Gründen nötig erscheint (sog. Regelungsanordnung). Voraussetzung für einen erfolgreichen Antrag ist, dass der Antragsteller einen Grund für die zu treffende Regelung (sog. Anordnungsgrund) und den Anspruch, aus dem er sein Begehren herleitet (sog. Anordnungsanspruch), schlüssig dargelegt und deren tatsächliche Voraussetzungen glaubhaft gemacht hat (§ 114 Abs. 3 FGO i.V.m. § 920 Abs. 2 der Zivilprozessordnung). Fehlt es an einer der beiden Voraussetzungen, kann die einstweilige Anordnung nicht ergehen (z.B. BFH-Beschluss vom 22. 12.2006 VII B 121/06, BStBl II 2009, 839).
a. Der für den Erlass der einstweiligen Anordnung erforderliche Anordnungsanspruch ist gegeben. Die Astin. hat bei summarischer Prüfung Anspruch auf Änderung der unter dem Vorbehalt der Nachprüfung stehenden Umsatzsteuerfestsetzungen 2006 bis 2008 gem. § 164 Abs. 2 Satz 2 AO. Diese Umsatzsteuerfestsetzungen sind rechtswidrig. Denn der Ag. hat die Umsätze der Astin. aus der Abgabe von Speisen bislang dem regulären Steuersatz von 16% bzw. 19% unterworfen (§ 12 Abs. 1 UStG), obwohl diese Umsätze tatsächlich als Lieferungen i.S.d. § 3 Abs. 1 UStG dem reduzierten Steuersatz von 7% unterliegen (§ 12 Abs. 2 Nr. 1 UStG i.V.m. Anlage 2 zum UStG).
Die bloße Lieferung von Speisen und Getränken i.S. des § 3 Abs. 1 UStG ist von der Abgabe von Speisen und Getränken zum Verzehr an Ort und Stelle abzugrenzen, die als sonstige Leistung i.S.d. § 3 Abs. 9 UStG zu qualifizieren ist. Während die Lieferung von Speisen i.S. des § 3 Abs. 1 UStG dem ermäßigten Steuersatz von 7% unterliegt (§ 12 Abs. 2 Nr. 1 UStG i.V.m. Anlage 2 zum UStG), ist die als sonstige Leistung i.S. des § 3 Abs. 9 UStG zu qualifzierende Abgabe von Speisen zum regulären Steuersatz zu versteuern.
Zur Abgrenzung von Lieferung und sonstiger Leistung im Falle von Imbissständen hat der EuGH in seinem Urteil vom 10.03.2011 Stellung genommen (Rechtssachen "Bog" u.a., C-497, 499, 501, 502/09, ABl EU 2011, Nr C 130, 6, DStR 2011, 515). Danach ist die Abgabe frisch zubereiteter Speisen oder Nahrungsmittel zum sofortigen Verzehr an Imbissständen oder -wagen dann als Lieferung zu qualifizieren, wenn eine qualitative Prüfung des gesamten Umsatzes ergibt, dass die Dienstleistungselemente, die der Lieferung der Nahrungsmittel voraus- und mit ihr einhergehen, nicht überwiegen (EuGH-Urteil vom 10.03.2011, aaO., erster Spiegelstrich des ersten Leitsatzes). Der Verkauf von Bratwürstchen und Pommes frites an einem Imbissstand beinhaltet aufgrund der notwendigen Zubereitungshandlungen zwar stets auch ein Dienstleistungselement. Diese Zubereitung beschränkt sich jedoch auf einfache standardisierte Handlungen, die dem Umsatz insgesamt nicht den Charakter einer Dienstleistung verleihen können (vgl. EuGH, EuGH, Urteil vom 10.03.2011, aaO., Rn. 67 und 68). Die Annahme einer bloßen Lieferung liegt nach einer beispielhaften Aufzählung des EuGH insb. dann nahe, wenn kein Kellnerservice, keine geschlossenen und temperierten Räume, keine Garderobe und keine Toiletten und kein Mobiliar und Gedeck vorgehalten werden (vgl. EuGH-Urteil vom 10.03.2011, aaO., Rn. 69).
Nach den vorstehend dargestellten Grundsätzen sind die Umsätze der Astin. aus dem Verkauf von Bratwürstchen, Pommes frites als Lieferung i.S.d. § 3 Abs. 1 UStG zu qualifizieren, da es sich um einfach zubereitete Speisen im Sinne der Rechtsprechung des EuGH und des BFH handelt. Die Astin. hält auch keine höherwertigen Verzehrvorrichtungen (Tische, Bänke etc.) vor, die ggf. zu einer Qualifizierung der Umsätze als sonstige Leistung i.S. des § 3 Abs. 9 UStG führen können.
Durch Vorlage der korrigierten Umsatzsteuererklärungen nebst Anlagen hat die Astin. die Höhe der Umsätze aus der Abgabe von Speisen und die Höhe der hieraus resultierenden Erstattungsbeträge hinreichend glaubhaft gemacht. Der Ag. hat die Richtigkeit dieser Angaben nicht bestritten.
Der Anordnungsanspruch im Hinblick auf die Zinsen ergibt sich aus § 233a AO.
b. Der Senat bejaht auch den Anordnungsgrund. Die Astin. hat schlüssig dargelegt und glaubhaft gemacht, dass ihr ohne die begehrte einstweilige Anordnung wesentliche Nachteile drohen. Die Astin. und die von ihr beherrschte Organgesellschaft sind unmittelbar von der Zahlungsunfähigkeit bedroht.
Ein Anordnungsgrund ist nach § 114 Abs. 1 Satz 2 FGO gegeben, wenn die einstweilige Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile, zur Verhinderung drohender Gewalt oder aus anderen Gründen nötig erscheint. Notwendig ist die Anordnung nur, wenn das private Interesse des Antragstellers an der einstweiligen Regelung das öffentliche Interesse an der Aufrechterhaltung des gegenwärtigen Zustandes überwiegt und die vorläufige Maßnahme unumgänglich ist, um wesentliche Beeinträchtigungen der Rechtsposition des Antragstellers zu verhindern. Die für den Erlass einer Anordnung geltend gemachten Gründe müssen so schwerwiegend sein, dass sie eine einstweilige Anordnung unabweisbar machen; das ist dann der Fall, wenn ohne eine vorläufige Regelung die wirtschaftliche und persönliche Existenz des Antragstellers bedroht wäre. Geringere Beeinträchtigungen des Antragstellers reichen grundsätzlich nicht aus (vgl. z.B. BFH-Beschluss vom 08.06.2011 III B 210/10, BFH/NV 2011, 1692; BFH-Beschluss vom 23.09.1998 I B 82/98, BStBl II 2000, 320; jeweils m.w.N.). Da eine einstweilige Anordnung nur einem vorläufigen Rechtsschutz dient, muss sich die Regelungsanordnung auf eine vorläufige Regelung beschränken. Sie ist grundsätzlich unzulässig, wenn sie das Ergebnis der Entscheidung in der Hauptsache praktisch vorwegnehmen und damit dieser endgültig vorgreifen würde (BFH-Beschluss vom 23.09.1998, I B 82/98, BStBl II 2000, 320; BFH-Beschluss vom 09.12.1969, VII B 127/69, BStBl II 1970, 222). Ausnahmsweise ist eine dem Ergebnis des Hauptsacheverfahrens endgültig vorgreifende Regelungsanordnung allerdings zulässig, wenn sie zur Gewährung effektiven Rechtsschutzes unumgänglich ist, der Erfolg des Antragstellers im Hauptsacheverfahren wahrscheinlich ist und der Anordnungsgrund eine besondere Intensität aufweist (BFH-Beschluss vom 20.09.1988 VII B 129/88, BStBl II 1988, 956; BFHBeschluss vom 22.08.1995, VII B 153, 154, 167, 172/95, BStBl II 1995, 645).
Im vorliegenden Fall besteht ein Anordnungsgrund, weil die wirtschaftliche Existenz der Astin. und der GmbH wegen drohender Zahlungsunfähigkeit unmittelbar bedroht ist. Es bestehen offene Verbindlichkeiten der GmbH in beträchtlicher Höhe, die von dieser jedenfalls gegenwärtig nicht beglichen werden können. Die Hausbanken der GmbH sind nicht bereit, eine Erweiterung des bereits ausgeschöpften Kreditrahmens zu gewähren. Diese Umstände hat die Astin. durch Vorlage zahlreicher Unterlagen glaubhaft gemacht, insb. durch Bestätigungen der Hausbanken der GmbH sowie durch Mahnungen und geschäftliche Korrespondenz. Auch die Astin. ist nicht in der Lage, der GmbH kurzfristig Liquidität aus ihrem Privatvermögen zur Verfügung zu stellen. Zwar stehen der Astin. offenbar nicht valutierte Eigentümergrundschulden zur Verfügung, die sie ihren Gläubigern als Sicherheit anbieten könnte. Der Senat sieht jedoch als glaubhaft an, dass die Banken angesichts des akuten Liquiditätsmangels der Astin. trotz möglicher Sicherheitengestellung nicht zur Erhöhung der vorhandenen Kreditrahmen bereit sind. Das vorhandene Immobilienvermögen der Astin. lässt sich nicht kurzfristig liquidieren.
Durch die einstweilige Anordnung wird zwar die Entscheidung in der Hauptsache vorweggenommen, da die Astin. nach Vollziehung der einstweiligen Anordnung uneingeschränkt über den Erstattungsbetrag verfügen kann. Auch der Umstand der Vorwegnahme der Hauptsache lässt den Anordnungsgrund im vorliegenden Fall jedoch ausnahmsweise nicht entfallen. Die Gewährung der einstweiligen Anordnung ist vorliegend zur Gewährung effektiven Rechtsschutzes unumgänglich, da durch den drohenden Eintritt der Insolvenz der Astin. ggf. unumkehrbarer Schaden droht. Weiterhin ist ein öffentliches Interesse an der Aufrechterhaltung des gegenwärtigen Zustandes nicht ersichtlich. Nach der gebotenen summarischen Prüfung ist frei von jeglichen Zweifeln, dass die von der Astin. erzielten Umsätze aus der Abgabe von Speisen als Lieferung i.S.d. § 3 Abs. 1 UStG zu qualifizieren sind und dem ermäßigten Steuersatz gem. § 12 Abs. 2 Nr. 1 UStG i.V.m. Anlage 2 des UStG unterliegen. Materiell-rechtliche Argumente, die gegen diese rechtliche Beurteilung sprechen, konnte der Ag. nicht vortragen.
Der Ag. kann sich nicht mit Erfolg darauf berufen, dass die Entscheidung des EuGH vom 10.03.2011 und die Folgeentscheidungen des BFH vom 08.06.2011 und vom 30.06.2011 noch nicht im Bundessteuerblatt veröffentlicht sind. Die Verpflichtung des Ag. zur Anwendung der geltenden Gesetze kann durch verwaltungsinterne Anweisungen übergeordneter Behörden weder sachlich beschränkt noch in zeitlicher Hinsicht ausgesetzt werden.
Finanzgericht Münster, Beschluss vom 23.02.20125 – V 4511/11 U
16.03.2012, Dr. Jochen Bachmann