BGH: § 370a AO verfassungswidrig!

Erneut hatte der Bundesgerichtshof Gelegenheit, sich zur Verfassungsmäßigkeit des § 370a AO (gewerbs- und bandenmäßige Steuerhinterziehung) zu äußern. Erneut kam es nicht zur Vorlage zum Bundesverfassungsgericht, aber der BGH hat seine Ansicht ausführlich dargelegt. Aus den Gründen: Der Senat hat das Verfahren im Hinblick auf die gewerbsmäßige Steuerhinterziehung nach § 154a Abs. 1 und 2 StPO beschränkt, weil die Strafnorm des § 370a AO erheblichen verfassungsrechtlichen Bedenken begegnet. Die durch das Steuerverkürzungsbekämpfungsgesetz (StVBG) vom 18. Dezember 2001 (BGBl I 3922) eingeführte und durch das 5. Gesetz zur Änderung des Steuerbeamten-Ausbildungsgesetzes und zur Änderung von Steuergesetzen (StBAG) vom 23. Juli 2002 (BGBl I 2715) novellierte Vorschrift qualifiziert die Steuerhinterziehung nach § 370 AO als Verbrechen, wenn sie gewerbs- oder bandenmäßig begangen wird und dadurch jeweils Steuern "in großem Ausmaß" verkürzt werden. Eine strafbefreiende Selbstanzeige ist ausgeschlossen; Angaben, die den Anforderungen an eine wirksame Selbstanzeige im Sinne von § 371 AO genügen, führen lediglich zur Verschiebung des Strafrahmens durch die gebotene Annahme eines minder schweren Falles gemäß § 370a Satz 2 AO. Abgesehen davon, daß innerhalb des damit neu geschaffenen Normengefüges der §§ 370 ff. AO die jeweiligen Konkurrenzverhältnisse völlig ungeklärt und die Strafrahmen so wenig aufeinander abgestimmt sind, daß erhebliche Wertungswidersprüche entstehen, ist nicht ersichtlich, wie der Verbrechenstatbestand des § 370a AO verfassungskonform ausgelegt werden kann. Das Steuerstrafrecht ist im Rahmen der Blankettnorm des § 370 AO aufgrund der durch das Steuerrecht vorgegebenen regelmäßigen Erklärungspflichten - monatlich, vierteljährlich oder jährlich - geprägt durch eine serielle Begehungsweise. Deliktstypisch zieht sich ein einmal begonnenes steuerunehrliches Verhalten über längere Zeiträume hin, ist folglich auf Wiederholung angelegt; zudem sind ebenso regelmäßig mehrere Personen in ein komplexes Hinterziehungsgeschehen eingebunden. Auf der Grundlage der ständigen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs sind die Tatbestandsmerkmale der "Gewerbsmäßigkeit" und der "bandenmäßigen Begehung" festgeschrieben und über § 369 AO auch im Steuerstrafrecht zugrunde zu legen. Eine davon abweichende Auslegung im Rahmen der Abgabenordnung im Sinne einer teleologischen Reduktion, wie sie in der Literatur vielfach befürwortet wird, war vom Gesetzgeber ersichtlich nicht gewollt. Denn die im StVBG enthaltenen Tatbestandsmerkmale des § 370a AO wurden bei der Novellierung durch das StBAG unverändert beibehalten, obwohl die öffentliche Kritik sich unter anderem gerade daran entzündet hatte, daß im Hinblick auf die Auslegung dieser Tatbestandsmerkmale durch die Rechtsprechung im Zusammenwirken mit den im Steuerrecht vorgegebenen Strukturen eine Vielzahl von steuerunehrlichen Bürgern vom Verbrechenstatbestand des § 370a AO erfaßt werden würden. Demnach ist eine Eingrenzung über diese Tatbestandsmerkmale nicht zu erreichen. Das danach entscheidende Verbrechensmerkmal der Steuerverkürzung "in großem Ausmaß" erscheint indes unter Bedacht auf Art. 103 Abs. 2 GG nicht ausreichend. Es läßt sich nicht erkennen, unter welchen Voraussetzungen dieses Tatbestandsmerkmal erfüllt ist, welche Anknüpfungspunkte maßgeblich sein sollen und ob es auf den jeweiligen Einzelfall ankommt oder ob bei einer Vielzahl von Hinterziehungstaten - wie etwa bei der monatlich anzumeldenden Lohnsteuer - eine Gesamtbetrachtung des Tatbildes entscheidend sein soll; bei diesem Befund ist nicht ersichtlich, wie der Normadressat - der dem Gesetz unterworfene Steuerbürger - durch Auslegung Tragweite und Anwendungsbereich des Verbrechenstatbestandes ermitteln und konkretisieren soll. Eine Anlehnung an die Rechtsprechung zur Strafzumessungsregel gemäß § 370 Abs. 3 Nr. 1 AO im Hinblick auf das für die Straffindung relevante Merkmal der Steuerverkürzung "aus grobem Eigennutz in großem Ausmaß" führt nicht weiter. Denn die im Strafzumessungsrecht gebotene Gesamtwürdigung aller die Tat prägenden und begleitenden Umstände läßt dem Richter bei der Rechtsfolgenbestimmung einen weiten Spielraum. Dementsprechend weit gefächert ist das in der Rechtsprechung zum Steuerstrafrecht anzutreffende Spektrum von Fällen, die entweder trotz hoher Verkürzungsbeträge noch dem Normalstrafrahmen zugeordnet worden sind oder die ungeachtet eines vergleichsweise geringen Hinterziehungsumfangs nach Auffassung des Tatrichters schon vom erhöhten Strafrahmen des § 370 Abs. 3 Nr. 1 AO erfaßt sein sollten. Die im Strafzumessungsrecht noch vertretbare Unbestimmtheit des Merkmals im Regeltatbestand (vgl. dazu auch BGH wistra 2004, 22 ff. - zur Veröffentlichung in BGHSt bestimmt - zum "großen Ausmaß" im Sinne von § 263 Abs. 3 Satz 2 Nr. 2 StGB) ist, wenn das Merkmal zum maßgeblichen Kriterium bei der Abgrenzung von Vergehen und Verbrechen im Rahmen der §§ 370, 370a AO wird, auf der tatbestandlichen Ebene nicht mehr hinnehmbar. Denn die derzeitige Gesetzesfassung überläßt die Auslegung dem jeweiligen Rechtsanwender, der gezwungen ist, die Grenze zum Verbrechenstatbestand - wie vorliegend - je nach seinem wirtschaftlichen Vorverständnis und dem von ihm herangezogenen rechtlichen Anknüpfungspunkt bei einem gegriffenen Hinterziehungsbetrag zu ziehen (vgl.: Meyer DStR 2002, 879, 881: 50.000 €; angefochtenes Urteil 250.000 €; Hunsmann aaO: 500.000 €). Sie genügt damit nicht der Anforderungen des Bundesverfassungsgerichts, wonach eine Strafnorm um so präziser sein muß, je schwerer die angedrohte Strafe ist (BVerfGE 105, 135, 155 f.). Die Nachbesserung eines unbestimmten Gesetzes ist dem Strafrichter versagt (BVerfG aaO S. 153). Bundesgerichtshof, Beschluss vom 22. Juli 2004 - 5 StR 85/04

21.09.2004, Dr. Bachmann

Erneut hatte der Bundesgerichtshof Gelegenheit, sich zur Verfassungsmäßigkeit des § 370a AO (gewerbs- und bandenmäßige Steuerhinterziehung) zu äußern. Erneut kam es nicht zur Vorlage zum Bundesverfassungsgericht, aber der BGH hat seine Ansicht ausführlich dargelegt. Aus den Gründen: Der Senat hat das Verfahren im Hinblick auf die gewerbsmäßige Steuerhinterziehung nach § 154a Abs. 1 und 2 StPO beschränkt, weil die Strafnorm des § 370a AO erheblichen verfassungsrechtlichen Bedenken begegnet. Die durch das Steuerverkürzungsbekämpfungsgesetz (StVBG) vom 18. Dezember 2001 (BGBl I 3922) eingeführte und durch das 5. Gesetz zur Änderung des Steuerbeamten-Ausbildungsgesetzes und zur Änderung von Steuergesetzen (StBAG) vom 23. Juli 2002 (BGBl I 2715) novellierte Vorschrift qualifiziert die Steuerhinterziehung nach § 370 AO als Verbrechen, wenn sie gewerbs- oder bandenmäßig begangen wird und dadurch jeweils Steuern "in großem Ausmaß" verkürzt werden. Eine strafbefreiende Selbstanzeige ist ausgeschlossen; Angaben, die den Anforderungen an eine wirksame Selbstanzeige im Sinne von § 371 AO genügen, führen lediglich zur Verschiebung des Strafrahmens durch die gebotene Annahme eines minder schweren Falles gemäß § 370a Satz 2 AO. Abgesehen davon, daß innerhalb des damit neu geschaffenen Normengefüges der §§ 370 ff. AO die jeweiligen Konkurrenzverhältnisse völlig ungeklärt und die Strafrahmen so wenig aufeinander abgestimmt sind, daß erhebliche Wertungswidersprüche entstehen, ist nicht ersichtlich, wie der Verbrechenstatbestand des § 370a AO verfassungskonform ausgelegt werden kann. Das Steuerstrafrecht ist im Rahmen der Blankettnorm des § 370 AO aufgrund der durch das Steuerrecht vorgegebenen regelmäßigen Erklärungspflichten - monatlich, vierteljährlich oder jährlich - geprägt durch eine serielle Begehungsweise. Deliktstypisch zieht sich ein einmal begonnenes steuerunehrliches Verhalten über längere Zeiträume hin, ist folglich auf Wiederholung angelegt; zudem sind ebenso regelmäßig mehrere Personen in ein komplexes Hinterziehungsgeschehen eingebunden. Auf der Grundlage der ständigen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs sind die Tatbestandsmerkmale der "Gewerbsmäßigkeit" und der "bandenmäßigen Begehung" festgeschrieben und über § 369 AO auch im Steuerstrafrecht zugrunde zu legen. Eine davon abweichende Auslegung im Rahmen der Abgabenordnung im Sinne einer teleologischen Reduktion, wie sie in der Literatur vielfach befürwortet wird, war vom Gesetzgeber ersichtlich nicht gewollt. Denn die im StVBG enthaltenen Tatbestandsmerkmale des § 370a AO wurden bei der Novellierung durch das StBAG unverändert beibehalten, obwohl die öffentliche Kritik sich unter anderem gerade daran entzündet hatte, daß im Hinblick auf die Auslegung dieser Tatbestandsmerkmale durch die Rechtsprechung im Zusammenwirken mit den im Steuerrecht vorgegebenen Strukturen eine Vielzahl von steuerunehrlichen Bürgern vom Verbrechenstatbestand des § 370a AO erfaßt werden würden. Demnach ist eine Eingrenzung über diese Tatbestandsmerkmale nicht zu erreichen. Das danach entscheidende Verbrechensmerkmal der Steuerverkürzung "in großem Ausmaß" erscheint indes unter Bedacht auf Art. 103 Abs. 2 GG nicht ausreichend. Es läßt sich nicht erkennen, unter welchen Voraussetzungen dieses Tatbestandsmerkmal erfüllt ist, welche Anknüpfungspunkte maßgeblich sein sollen und ob es auf den jeweiligen Einzelfall ankommt oder ob bei einer Vielzahl von Hinterziehungstaten - wie etwa bei der monatlich anzumeldenden Lohnsteuer - eine Gesamtbetrachtung des Tatbildes entscheidend sein soll; bei diesem Befund ist nicht ersichtlich, wie der Normadressat - der dem Gesetz unterworfene Steuerbürger - durch Auslegung Tragweite und Anwendungsbereich des Verbrechenstatbestandes ermitteln und konkretisieren soll. Eine Anlehnung an die Rechtsprechung zur Strafzumessungsregel gemäß § 370 Abs. 3 Nr. 1 AO im Hinblick auf das für die Straffindung relevante Merkmal der Steuerverkürzung "aus grobem Eigennutz in großem Ausmaß" führt nicht weiter. Denn die im Strafzumessungsrecht gebotene Gesamtwürdigung aller die Tat prägenden und begleitenden Umstände läßt dem Richter bei der Rechtsfolgenbestimmung einen weiten Spielraum. Dementsprechend weit gefächert ist das in der Rechtsprechung zum Steuerstrafrecht anzutreffende Spektrum von Fällen, die entweder trotz hoher Verkürzungsbeträge noch dem Normalstrafrahmen zugeordnet worden sind oder die ungeachtet eines vergleichsweise geringen Hinterziehungsumfangs nach Auffassung des Tatrichters schon vom erhöhten Strafrahmen des § 370 Abs. 3 Nr. 1 AO erfaßt sein sollten. Die im Strafzumessungsrecht noch vertretbare Unbestimmtheit des Merkmals im Regeltatbestand (vgl. dazu auch BGH wistra 2004, 22 ff. - zur Veröffentlichung in BGHSt bestimmt - zum "großen Ausmaß" im Sinne von § 263 Abs. 3 Satz 2 Nr. 2 StGB) ist, wenn das Merkmal zum maßgeblichen Kriterium bei der Abgrenzung von Vergehen und Verbrechen im Rahmen der §§ 370, 370a AO wird, auf der tatbestandlichen Ebene nicht mehr hinnehmbar. Denn die derzeitige Gesetzesfassung überläßt die Auslegung dem jeweiligen Rechtsanwender, der gezwungen ist, die Grenze zum Verbrechenstatbestand - wie vorliegend - je nach seinem wirtschaftlichen Vorverständnis und dem von ihm herangezogenen rechtlichen Anknüpfungspunkt bei einem gegriffenen Hinterziehungsbetrag zu ziehen (vgl.: Meyer DStR 2002, 879, 881: 50.000 €; angefochtenes Urteil 250.000 €; Hunsmann aaO: 500.000 €). Sie genügt damit nicht der Anforderungen des Bundesverfassungsgerichts, wonach eine Strafnorm um so präziser sein muß, je schwerer die angedrohte Strafe ist (BVerfGE 105, 135, 155 f.). Die Nachbesserung eines unbestimmten Gesetzes ist dem Strafrichter versagt (BVerfG aaO S. 153). Bundesgerichtshof, Beschluss vom 22. Juli 2004 - 5 StR 85/04

21.09.2004, Dr. Bachmann

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